WARUM KUNST?


von Prof. Klaus Kowalski

Erleuchten und Erläutern der christlichen Lebensgemeinschaft

Schon die Frage zeigt, dass sich Kunst von allen anderen Lebensleistungen unserer heutigen Gesellschaft abgetrennt hat. Niemand im Mittelalter wäre auf die Idee gekommen diese Frage zu stellen, weil das, was wir heute für Kunst halten, im Mittelalter zum Leben dazugehörte wie der christliche Glaubensvollzug, die Bürgerschaft in einer Stadt oder die Leibeigenschaft auf dem Lande. Die ‚Kunst’ diente der Illumination und Illustration des christlichen Glaubens im sakralen wie im profanen Bereich. 

Künstlerische Höchstleistungen schmälern die Verständnisbasis

Dieses fraglos Notwendige der Bilder, Plastiken und Architekturen, die die christliche Lebensauffassung für alle gleichermaßen verständlich machten, ging verloren, als in Folge der französischen Revolution Staat und Kirche, Glaube und Wissenschaft, Arbeit und Freizeitvergnügen, Handwerk und künstlerische Tätigkeit sich mehr und mehr voneinander trennten. Jede dieser für eine menschliche Gesellschaft notwendigen Bereiche wirkten immer mehr für sich und erreichten dadurch ein immer engeres Spezialistentum. Es kam auf allen Gebieten zu Höchstleistungen – nur der Kontakt zwischen diesen Lebensbereichen ging nach und nach verloren. So ging es auch mit denen, die sich der Kunst widmeten. Spätestens nach der ‚Erfindung’ des Kubismus war klar, dass hier und auch anderswo, die Künstler nur der Kunst eigene Probleme verfolgten und bearbeiteten. Ab den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts mussten diejenigen, die das Neue, Moderne in der künstlerischen Aussage verstehen wollten, schon fachlich gebildet sein, um mitdenken und mitdiskutieren zu können. Der kulturelle Diskurs, einst eine Gemeinschaftsveranstaltung aller, dann der Gebildeten und nun der Wissenden, bekam eine immer schmalere Basis. Eine nur den Lebensumständen zugewandte Kunst gab es am Ende der 40ziger Jahre wohl kaum noch – jedenfalls nicht in Europa. 

Kunst als individuelle Kritik der Lebensumstände

Da ergriffen die Jungen, aus den Schrecken des 2. Weltkriegs zurückgekehrt, die Initiative. Sie hatten keinen Sinn mehr für theoretische Begründungen einer Kunst, die nur durch diese überhaupt nachvollziehbar wurde. Die Jungen wendeten sich nach einem alles verheerenden Krieg, der alle idealistischen Gedankenflüge hatte fragwürdig werden lassen, abrupt den Realien des Lebens zu. Dinge der Konsumwelt erklärten sie zu interpretierbaren Werken einer neuen Kunst, stellten sie aus und damit auch bloß. Das Ästhetische der Werbung z.B., der mittels psychologischer Tricks zu schönem Schein verpackte ästhetische Reiz, der zu unbedachten und unnotwendigen Kaufhandlungen überreden wollte, wurde auf diese Weise offenbar gemacht. Mit einem Mal war Kunst –  einst die Formulierung allgemein menschlicher Zustände und Emotionen –  eine individuelle Meinungsäußerung Einzelner über selbst erfahrene Lebensumstände geworden. Die Möglichkeiten der Darstellung verengten sich noch einmal im Hinblick auf das Besondere eines Gedankengangs oder Erlebnisses des einzelnen Kreativen. Aus Mangel an einer früher vorhandenen allgemeinen Ikonologie der Bild- und Kunstinhalte, schlugen die Inhalte nun auch in Gags, Witz oder Ironie um und gingen damit eines bis dahin noch von vielen Kunstkonsumenten vermuteten allgemeinen, Welt deutenden Anspruchs einer Aussage verlustig. 

Die Kunst Gesehenes in provokante Denkakte zu verwandeln

Der Augenblick regierte. Amüsiert sein und Betroffen sein wurden sich sehr ähnlich – wobei von den ‚Künstlern’ mit Nachdruck nach Bereichen menschlicher Lebensumstände gesucht wurde, die sich bisher – aus welchen Gründen auch immer – einer Veranschaulichung hatten entziehen können. Das Neue, der Einfall, das augenblicklich Frappierende, der Tabubruch regieren.

In dieser Situation befindet sich die Kunst heute. Doch handelt es sich nicht mehr um die eine oder andere stringente Richtung, wie sie sich einst in den Ismen der ideologischen Lager – Expressionismus, Orphismus, Kubismus, Futurismus, Surrealismus, Realismus, Konstruktivismus etc. – gegeneinander abgrenzten. Es entstand eine alle Möglichkeiten des ästhetischen Handelns transparent machende, fast unendliche Vielfalt zwischen Fotografischer Abbildung des Angetroffenen und minimalistischer Formuntersuchung, zwischen altmeisterlicher Malerei und realer Objektivierung von Fundumständen in Außen- und Innenbereichen menschlichen Daseins. Eine kalkulierte Bildhaftigkeit existiert nun neben den ästhetisch interpretierbaren Zufälligkeiten des Augenblicks auf der eben angedeuteten Basis einer persönlichen Eigenwerklichkeit. Aus diesem Sichtwinkel hat ‚die Kunst’ der Gegenwart an Umfang und Aussagemöglichkeiten gegenüber vergangenen Werkauffassungen so immens zugenommen, dass sich schließlich die Grenze zwischen Gewollt und Ungewollt gänzlich verwischt hat. So kommt es schließlich zu der klassisch anmutenden Formulierung einer 13jährigen, an der Marcel Duchamp Gefallen gefunden hätte: befragt, was für sie Kunst sei, antwortet sie schlicht und ergreifend: Kunst ist, wenn man sich dabei etwas denkt!

Die Werkinterpretation als sinngebende Weltdeutung

Und hier mag nun die Sinnfrage bei solchem Tun erlaubt sein. Das aus alten Zeiten überkommene ‚Kunstwerk’ trug seinen Sinn in sich. Der Betrachter musste sich, wollte er am kulturellen Leben seiner Zeit teilnehmen, an die Entschlüsselung der Sinngehalte eines Werkes machen, dessen Qualität auch daran gemessen wurde, wie viele Sinnschichten sich innerhalb eines Werkes aufzeigen und aufeinander beziehen ließen. Dabei bediente er sich eines Netzes gesellschaftlich feststehender, allgemein bekannter Bedeutungen, mit deren erweiternder Auslegung der Künstler beschäftigt war. So ist leicht erklärlich, warum Rembrandts Radierung ‚Lasset die Kindlein zu mir kommen…’ (das sogen. Hundertguldenblatt) für weit qualitätvoller gehalten wurde als etwa eine Landschaft Monets, wie z. B. ‚Die Pappeln’ in der Stuttgarter Staatsgalerie. 

Das Werke machen als Psychogramm eigener Zuständlichkeit

Das, was in Ermangelung eines neuen Begriffs heute immer noch ‚Kunstwerk’ genannt wird, aber keinesfalls mit den Werken vergangener Zeiten verwechselt werden darf, ist nun das genaue Gegenteil: da ‚erfindet’ jemand mittels gemalter, montierter oder nur zusammengestellter bzw. aus der Wirklichkeit isolierter Objekte und Ensembles ein zur Ansicht gebrachtes gedankliches Beziehungsgefüge seiner inneren und äußeren Welt, das ihm selbst einen Einblick in seine augenblickliche, gerade erlebnisnah existenten Wirklichkeit vermittelt. Selbstreferentiell hat man diese augenblickliche Stellungnahme zu irgendwelchen Gedanken, Erlebnissen oder Einfällen jeglicher Art genannt. Der Betrachter kann ein solches Beginnen kaum entschlüsseln, weil eine allen bekannte Ikonologie der Bild- bzw. Objektinhalte fehlt. Also sieht er sich angewiesen seine eigenen Einstellungen und Erlebnisse zu aktivieren und kommt folglich zu einer eigenen Interpretation des Ausgestellten – wobei die Angst zu irren die Sehnsucht nach authentischer Erklärung heraufbeschwört. Das erklärt, warum heute so viel über Kunst geredet und geschrieben wird oder besser geredet werden kann!

Kunst als Mittel kulturelle Teilhabe und Selbstfindung 

In dieser Situation wird es sinnfällig, der Titelfrage ‚WOZU Kunst’ nachzugehen. Da heute so gut wie alle Ausdrucksmöglichkeiten der vergangenen Jahrhunderte benutzt und auch entsprechend gewechselt werden können, existieren eben auch sehr unterschiedliche Anforderungsebenen in dem, was heute der ‚Kunstbetrieb’ genannt wird. 

Aus den Zeiten, als das Beständige und nicht das flüchtig Erlebnisschwangere einen Wert besaß, ist gerade noch eine der ältesten Formen der Veröffentlichung von Kunst, die ‚Kunstausstellung’ übrig geblieben, wozu auch die Sammlungen in Museen und Institutionen gehören. In ihnen lässt sich der Stand von Veränderungsprozessen einzelner Künstler oder auch ein kultureller Klimawechsel darstellen, wie dieses z. B. im Bonner Kunstmuseum praktiziert wird. Kunst war und ist ein äußerst sensibles Medium, wenn es um Bewusstseinsveränderungen einer Gesellschaft geht – und so ist diesem Medium immer noch –  oder gerade heute erst recht besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Allerdings muss die Betrachtung der visuellen Angebote intensiv geschult werden, um vom Geschmacksurteil (das gefällt mir, das gefällt mir nicht) zu einer sinnstiftenden Einsicht zu gelangen.

Kunst als wertsteigerndes Spekulationsangebot

Um allen unterschiedlichen Aussagemöglichkeiten gerecht zu werden, sie gewissermaßen zu veröffentlichen, ist das Museum inzwischen nicht mehr sonderlich geeignet. Dafür sind die KUNSTMESSEN erfunden worden. Wer z. B. in die ‚Art Colonia’ geht, glaubt in einem Irrenhaus menschlicher Äußerungszwängen zu sein – solange er eine objektivierende Antwort auf die Frage sucht: Was ist Kunst? Aber das extrem individualisierte Angebot dient dem Sammler als erste Orientierung und reizt Galeristen dazu, auf den einen oder anderen kreativ Tätigen zu setzen, ihn ‚marktgerecht’ zu sponsern, mit dem Ziel einen möglichst hohen Gewinn durch Marktvorteile zu erlangen. Sie werden schon seit anderthalb Jahrhunderten durch ‚etwas ganz Neues’, ‚Noch-nie-Dagewesenes’ an Kombinatorik, Tabubruch oder Psychodramatik heraufbeschworen. Hier kommt es zum Starkult der großen Galerien, in dem auf Ausgewählte ‚gesetzt’ wird wie auf eine Aktie –  unterstützt von angesehenen Museen und Stiftungen, die als Trendsetter funktionieren und den Kunstmarkt anheizen – ein Vorgang, der sich in dem Bestreben einer Gewinnmaximierung überhaupt nicht mehr von anderen Bereichen gegenwärtiger Marktangebote unterscheidet. Kunst ist hier Ware geworden. 

Das kreative Engagement des Einzelnen als Erlebnispotential im regionalen Kulturbetrieb

Dieses ist mehr eine Sache der hoch angesehenen Galerien und Museen, die beide zusammen auch kulturelle Modellierungsarbeit leisten, wie z. B. die ‚Plastikmeile’ am Leibnitzufer in Hannover zeigen kann. Die vielen tausend Kunstvereine und Kunstläden in Stadt und Land können in dieser gesellschaftlichen Situation nichts anderes tun, als auf die eine oder andere Variante einer regional für interessant gehaltenen Einsicht in das kreative Engagement Einzelner unterhalb der Großmarktebene aufmerksam zu machen. Dabei ist es die Aufgabe dieser Institutionen, Publikum durch Bildungsangebote wie programmatische Auswahl, Führungen, Vorträge und Symposien anzulocken, um ihnen unmittelbarere Erlebnispotentiale zu erschließen als dieses die durch Einschaltquoten gesteuerte medial vermittelte Erlebnisindustrie vermag: Eine unmittelbare Begegnung mit dem erschreckend Neuen oder ungewohnt Anderen – vielleicht auch beim Besuch des einen oder anderen Künstlers selbst – ist immer noch intensiver als eine noch so gut zubereitete Konserve wie z.B. die mediale Berichterstattung über ein Kunstereignis wie die Biennale oder die documenta – es sei denn, es handelt sich auch im Fernsehen um künstlerisch Gehandhabtes. 

Die Konkretisierung des eigenen Erlebnispotentials durch Eigentätigkeit

Es ist deswegen auch kein großer Schritt, sich für den unmittelbaren Umgang mit Material, künstlerisch-kreativen Fragestellungen oder einfach auch mit sich selbst an Hand malerischer, grafischer oder plastischer Mitteln zu beschäftigen. Dieses Angebot hat einerseits Erlebnischarakter, führt andererseits aber auch zu persönlicher Betroffenheit, zu Besinnungsmomenten der Selbsteinschätzung, die bis zu meditativen Erfahrungen und existentiellen Selbstfindungsprozessen führen können. Aus diesem Urgrund des Menschlichen hat sich die Kunsttherapie entwickelt und ist in allen ihren graduellen Abstufungen zu einem der wichtigsten Förderer von Selbstwertgefühl des Einzelnen geworden. Es wächst mit dem, was gemeinhin als ‚ein Werk machen’ beschrieben wird. In diesen Prozess ist das Bewusstsein der eigenen Verantwortung für das Geschaffene eines der wesentlichen Momente, Menschen wieder aus den unpersönlich gewordenen Dienstleistungsbetrieb unserer Gesellschaft zu sich selbst zu bringen. Hier gewinnt das Selbstreferentielle seinen Sinn! Verwunderlich ist allerdings, dass der genau entgegengesetzte Trend ‚en vogue’ ist: nicht einmal in den Pisastudien wird das kreative Defizit benannt, geschweige denn untersucht – wo doch fast jeder Psychologe weiß, dass es zum Heranbilden leistungsfähiger und einfallsreicher Mitmenschen vor allem der inneren Bilder bedarf! Hier läge eine der zentralen Aufgaben jedes kreativen Angebots.

Ästhetisches Erleben und kreatives Tun als ichbezogene Erlebnisganzheit

Kurzum, die die Welt aus höherer Warte deutende Monopolstellung der Kunst ist dahin. An ihre Stelle sind vielfältige Möglichkeiten des Erlebens getreten, in denen das, was heute noch als ‚Künstlerisch’ angesprochen wird, nur eine der vielen Varianten ist, sich mehr oder weniger intensive Erlebnisse zu verschaffen. Sich Kunstausstellungen ansehen oder ein Werk aus sich heraus kreativ erarbeiten gleicht oberflächlich allen anderen kulturellen Veranstaltungen, vom ‚Altstadtfest’ bis zur ‚Olympiade’, vom ‚Verkaufsoffenen Sonntagsbummel’ bis zum Theatererlebnis! Diejenige Ereigniswahl ist jedoch – auf den Einzelnen bezogen –  werthaltiger, die eine Emanzipation des Selbst beinhaltet. Nicht der Status einer Veranstaltung, sondern – entgegen aller Werbekampagnen –  unsere eigenen Entscheidungen inmitten von Handlungsabläufen zählen! Sie aber müssen einen Widerhall im kulturellen Angebot haben: darum also sind ästhetische Erlebnisse und ein ins eigene Belieben gestelltes kreatives Tun Bausteine einer selbstbewusst verantworteten Lebenswirklichkeit. 

Dieser Text erschien 2009 im Band zum 25ten Geburtstag des Kunstvereins Wunstorf.

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